Zu den grundlegenden Kennzeichen des Iǧtihād und der Herleitung von islamrechtlichen Urteilen gehört das Verstehen der Zweige und Partikularia im Lichte der Grundregeln und Universalien. Ebenso gehört dazu, die legislativen Universalien und definitiven Grundregeln zur Entscheidungs- und Regelungsinstanz über die partikularen Zweige zu erheben. Die Universalien sind schließlich absolut, sowie sich diese darüber hinaus aus der Gesamtheit der partikularen Texte bildeten. Das Partikulare kann nicht über die Universalie entscheiden, geschweige denn dass dieses der Universalie vorangestellt wird. Einem partikularen Text können Hindernisse zukommen, welche seine Umsetzung verhindern, selbst wenn dieser gesichert ist und authentisch auf den Gesetzgeber zurückgeht. Schließlich besteht zwischen der Authentizität des Belegs und seiner Umsetzung keine untrennbare Beziehung. Vielmehr ist gefordert das Authentische umzusetzen, was nach Vorhandensein weiterer Bedingungen geschieht, welche über die bloße Authentizität hinausgehen. Dies ist bei der Universalie nicht der Fall.

Dementsprechend beschließt der European Council Folgendes:

– Die legislativen Universalien und fundierenden universalen Grundlagen, welchen zugleich ein autoritativer Status im Thema der sozialen Beziehungen im europäischen Kontext zukommt sind: Die universalen Werte, welche aus der Gesamtmenge an islamrechtlichen Texten und der Nachverfolgung des Gesetzgeberverhaltens und seiner Gewohnheiten in der Legalisierung islamrechtlicher Urteile im Bereich sozialer Beziehungen induziert wurden. Diese Universalien sind autoritativ, maßgebend und entscheidend in allen Fragen, Angelegenheiten und Details der sozialen Beziehungen. Jene Universalien sind die Folgenden:

Pietät und Gerechtigkeit. Hierauf deutet die Rede Allahs, erhaben ist Er: „Allah verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu behandeln. Gewiß, Allah liebt die Gerechten.“ (Sure al-Mumtaḥina 60:8). Hierbei handelt es sich um eine allgemeine und definitive Rede, welche nicht abrogiert wurde und sämtliche Religionen und Konfessionen umfasst. Sie bildet ein Gebot des guten Umgangs, der Würdigung und der monetären Geldabgabe an Mitmenschen aus Loyalität, Verwandtschaft und Annäherung. Hierbei wurde der koranische Ausdruck der Güte zu den Eltern verwendet, nämlich al-Birr.

Die gegenseitige Unterstützung zur Güte und Gottesfurcht. Hierauf deutet die Rede Allahs, erhaben ist Er: „Helft einander zur Güte und Gottesfurcht, aber helft einander nicht zur Sünde und feindseligem Vorgehen“ (Sure al-Māʾida 5:2). Dies ist ein Gebot an die gesamte Menschheit, sich gegenseitig zur Güte und Gottesfurcht zu verhelfen und sich nicht zur Sünde und feindseligem Vorgehen zu unterstützen, selbst wenn hierfür Anlässe vorliegen.

Die natürliche menschliche Veranlagung (fiṭra): Darauf deutet die Rede Allahs, des Erhabenen: „(gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der Er die Menschen er schaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die Schöpfung Allahs.“ (Sure ar-Rūm 30:30). Die Gelehrten der islamischen Rechtstheorie (ʾUṣūl al-Fiqh) bestimmten, dass die Offenbarung nicht auferlegt, was der Mensch durch seine natürliche Veranlagung ohnehin liebt und zugeneigt ist, da dies dem menschlichen Instinkt überlassen wird. Ebenso wird nicht untersagt, was die Menschen natürlicherweise anwidert, da sich hier mit dem Instinkt begnügt wird. Ausgenommen hiervon ist der Fall, dass durch instinktives Handeln ein höherwertiger Nutzen versäumt wird. Die Beziehung des Muslims, seine Liebe, Unterstützung und Aufopferung für seine Nachbarn und seine Heimat sind instinktive Werte, zu welchen der Mensch von Natur aus geneigt ist, auch wenn er sich in einer nicht-muslimischen Gesellschaft befinden sollte. Daher ist es nicht statthaft, die natürlichen Folgen der gesunden menschlichen Veranlagung durch falsche Verständnisse partikularer Texte oder traditioneller Rechtsmeinungen zu stören.

Wohltätigkeit (ʾIḥsān): Hierauf deutet die Rede Allahs, erhaben ist Er: „Und tut Gutes. Allah liebt die Gutes Tuenden.“ (Sure al-Baqara 2:195). Es handelt sich hierbei um eine allgemeine Rede, welche sich nicht auf bloßen Kontakt beschränkt, sondern dazu aufruft, den Kontakt auf die höchsten und nobelsten Stufen zu erheben.

– Es ist nicht korrekt, im Fiqh der sozialen Beziehungen in den europäischen Gesellschaften die Seite des Verbots, der Untersagung und Unnachgiebigkeit dominieren zu lassen. Vielmehr ist geboten, die Gebote und erwünschten Handlungen besonders zu fördern. Dies bedingt nicht zwangsläufig die Vernachlässigung der Seite der Verbote. Schließlich deuten die Texte des edlen Koran und der prophetischen Tradition darauf. Auch ist dies die Meinung vieler islamischer Rechtstheoretiker (ʾUṣūliyyūn).

– Es obliegt den europäischen Imamen und Predigern, in ihren Ansprachen und islamrechtlichen Präferenzen die Bedarfe und Hinderungsgründe zu berücksichtigen. Hierbei haben sie zwischen den an sich verbotenen Dingen (Zweckverbote) und jenen zu unterscheiden, welche nur verboten wurden, da sie zu Verbotenem führen (Wegverbote). Sie haben von der festgelegten Regel der islamischen Rechtstheorie (ʾUṣūl al-Fiqh) zu profitieren, welche besagt: „Was an sich verboten wurde, wird nur in Not (ḍarūra) erlaubt. Was aber verboten wurde, um den Zugang zu verbotenen Mitteln zu versperren (sadd aḏ-Ḏarāʾīʿ), wird bei Bedarf (ḥāǧa) erlaubt.“ Diese Regel findet Anwendung in zahlreichen Angelegenheiten im Bereich der sozialen Beziehungen im europäischen Kontext.